Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du zu wenig bist? Zu wenig laut? Zu wenig offen? Zu wenig Rampensau? Dann bitte: Hör nicht auf ihn oder sie!

Meist ist es ja so: Wer sich traut, aus sich rausgeht, vor anderen spricht und sich zeigt, gilt als mutig, stark und engagiert. Wer das nicht tut als zu schwach. Aber lernfähig. Immerhin! Und wenn die Bereitschaft zum Lernen nicht aus den leisen Menschen selbst herauskommt, werden sie so lange motiviert – ja, gedrängt – bis sie sich nach vorne wagen. Bis sie endlich auch so öffentlich sprechen, präsentieren und netzwerken, wie man es halt tut. Doch wer definiert dieses „man“ und warum werden leise Menschen nie nach ihren Stärken beurteilt, sondern mehr und mehr dazu gedrängt, Stärken von Extravertierten zu imitieren?

 

Der Stärken-Schwächen-Irrglaube

Jeder Mensch hat Stärken. Laute wie leise. Doch gerade westliche Gesellschaften fokussieren sich auf die extravertierten Stärken: auf Redegewandtheit, dynamisches Auftreten und Offenheit. Zweifelsohne sind diese Stärken wichtig. Aber sie sind nicht die einzigen erstrebenswerten Eigenschaften. Kreativität, Empathie, Ausdauer und viele weitere Vorzüge sind klassische Stärken introvertierter Menschen. Leider werden diese zwar gesehen, aber nicht als gleichwertig anerkannt. Und so kommt es zu immer wieder ähnlichen Szenen: Ein Vorgesetzter attestiert einem leisen Mitarbeiter einen Mangel an dieser und jener Extra-Stärke und verknüpft dies mit anderen negativen Dingen. Zum Beispiel damit zu wenig teamfähig zu sein, wenn man die Präsentation nicht übernimmt. Andersrum dürfte dies nur sehr selten vorkommen. Genau das ist unfair, weil die einen sich verändern müssen und die anderen so bleiben dürfen, wie sie sind.

 

Verbiegen funktioniert nicht

Jeder Mensch sollte die Freiheit haben, seine eigenen Stärken zu nutzen, sie mehr und mehr zu verbessern und so in seinem Gebiet exzellent zu werden. Sich gezwungenermaßen zu verbiegen funktioniert nicht. Denn es führt dazu, dass Introvertierte mit einer mühsam antrainierten Extra-Stärke zweiter Klasse herumlaufen und ihre wichtigen eigenen Vorzüge nicht einbringen können. Warum muss eigentlich ein leiser Mensch zwangsläufig seine Rhetorik-Kompetenzen steigern, wenn er gar kein Redner sein möchte? Wurde jemals einem extravertierten Menschen gesagt, er solle sich jetzt aber endlich mal einen Ruck geben und lernen Konzepte tiefgründig auszuarbeiten? Oder kreative Werke zu erschaffen, weil es wichtig ist, dass das jeder kann? Wohl kaum.

 

Wir brauchen laute und leise Stärken

Wenn du dir Studien wie diese zu gefragten Soft Skills ansiehst, erkennst du dort sehr viele gefragte Eigenschaften, die eher zu extravertierten Menschen passen:

  • Gesprächs- und Verhandlungsführung
  • Entscheidungsfähigkeit
  • Präsentieren und öffentliches Sprechen

Aber auch typische Intro-Stärken:

  • Kreativität
  • Analytisches Denken
  • Interkulturelle Kompetenzen

 

Das zeigt: Beide Pole sind wichtig und werden in Unternehmen und Gesellschaften benötigt. Welcher Mitarbeiter wird nun aber Stärken beider Seiten in sich vereinen? Ich denke, die Anzahl dürfte gen Null gehen. Natürlich kann jeder alles erlernen und auch leise Menschen können tolle Redner werden, wenn sie das möchten. Es geht aber darum, dass sie dies freiwillig wählen dürfen und nicht permanent mit einer Erwartungshaltung konfrontiert werden.

 

 Stärke deine Stärken Introvertiert imitieren Extrovertierte

 

Leise Stärken anerkennen

Wir begehen den großen Fehler und stufen nur laute Stärken als gut ein und schwache Stärken als nice to have. Wie viel sinnvoller wäre es, wenn wir uns einfach ergänzen könnten. Wenn laute Menschen ihre Stärken auf der Bühne zeigen und leise sich um das Dahinter kümmern. Beide Stärken wären gewinnbringend eingesetzt und niemand bekäme das Gefühl falsch zu sein. Die Lösung ist so einfach: Jeder stärkt seine Stärken und bringt sie in ein Team ein. So erreichen wir das maximale Potenzial, integrieren laute und leise Menschen und können darauf verzichten, jemanden zu verbiegen, indem wir seine „Schwäche“ stärken wollen.

 

Unternehmen ändern, nicht Mitarbeiter

Menschen entgegen ihres Naturells und ihrer zweifelsohne vorhanden Kompetenzen immer wieder hin zu einer ganz anderes Wesensart zu drängen, ist ungesund. Für den Menschen, aber auch für den Erfolg des Unternehmens und die Stabilität ganzer Gesellschaften. Was genau für einen Sinn macht es, wenn nicht nur 50 % der Anwesenden im Meeting laut sind, sondern alle? Deutlich effizienter wäre es doch, wenn Redner und Zuhörer in etwa ausgewogen wären. Denn wenn alle reden, hört niemand mehr zu und keine einzige Idee wird weiter als bis zur Türschwelle des Raumes kommen. Unternehmen profitieren auf allen Ebenen sehr davon, wenn sie erkennen, dass sie beides brauchen: laute und leise Menschen, Macher und Denker. Um beide Seiten zu fördern, gibt es ganz einfache Tools

 

  • Meetings nicht nur mit Rede- sondern auch mit Schreibzeit füllen, um Ideen aller Mitarbeiter zu sammeln
  • Vorbereitungsbögen vorab an alle Mitarbeiter schicken
  • Introvertierte Mitarbeiter im Einzelgespräch gezielt nach ihrer Einschätzung fragen
  • nicht nur Event-, sondern auch Ruhezonen schaffen

 

Werd laut für deine leise Stärke

Inspiriere gerne andere, wenn du diese Dinge kennst. Rege im Team an, beim nächsten Mal anders über die Aufgabenverteilung nachzudenken. Bestehe darauf, dass jede Stärke als wertvoll angenommen wird. Dass nur das Zusammenspiel wirklich erfolgreich macht. Und dass es in keinem Unternehmen dieser Welt heute noch nötig ist, alle auf Extraversion zu schulen, weil damit die Hälfte des großartigen Mitarbeiterpotenzials flöten geht.

Stärke deine Stärken und lass dir nichts anderes einreden

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