Introversion ist kein pathologischer Befund, sondern eine normale Wesensart. Dass introvertierte Menschen im Leben anders reagieren als extrovertierte hat neurologische Ursachen. Wir ticken tatsächlich anders. Was genau im Kopf von Intros und Extros passiert und wie jeder daraus seinen eigenen Weg ableiten kann, erkläre ich dir in diesem Artikel.

 

Introversion: eine Variante von richtig

Viele introvertierte Menschen fühlen sich anders als andere. Weil es in unserer Welt einfacher und auch “normaler” scheint, extrovertierte Wesenszüge auszuleben, spüren leise Menschen hier einen Bruch. Denn sie selbst finden oft wenig Reizvolles daran, die ganze Nacht durchzufeiern oder auf große Messen & Events zu gehen. Es entsteht eine Lücke zwischen dem “So sollte man sein” und dem “So bin ich”, die langfristig in die Frage mündet: “Warum bin ich anders?” Mir ist es wichtig zu betonen, dass Anderssein im Grunde unser Normalzustand ist, weil wir uns alle auf einer Temperament-Skala bewegen und uns nicht am Mittelpunkt sammeln. Bis zu einem gewissen Punkt wird dieses Abweichen vom Median auch toleriert, driften manche jedoch zu sehr ins Extrovertierte hinein, werden sie als aufdringlich und anstrengend empfunden. Bewegt sich jemand jedoch sehr weit zum Pol der Introversion hin, lautet die Einstufung: zu ruhig und einzelgängerisch. Wir alle denken in Schubladen und haben gewisse Vorurteile. Das lernen wir bereits als Kinder, denn dieses Schubladendenken erleichtert uns die Welt zu verstehen. Kategorisieren in Mädchen- und Jungensachen oder auch in gut und böse hilft uns bereits früh, uns zu orientieren und gibt ein Gefühl der Sicherheit. Kategorien sind auch durchaus in Ordnung, falsche Vorurteile und ein zu straff gezurrter Stereotyp sind es aber nicht. Lasst uns dieses steife Denken ein wenig aufbrechen, oder wie Julia Engelmann es so schön sagt:

 

Was soll das überhaupt heißen, jemand ist sonderbar und eigenartig,
das sind doch bloß Synonyme für besonders und für einzigartig
Jemand sagt dir: „Du bist anders“, dann denk dir für dich
:
„Anders ist nicht falsch, ist bloß ‘ne Variante von richtig“
(aus: Julia Engelmann “Stille Wasser”)

 

Übrigens, wenn Ihr den zugehörigen Poetry Slam noch nicht kennt, hier könnt ihr ihn anhören:

 

Was in Extro- und Intro-Hirnen geschieht

Warum aber reagieren Introvertierte so anders als Extrovertierte? Weil Sie tatsächlich anders ticken. Vor allem, was die Aufnahme von Reizen angeht. Diese Unterschiede sind bis in die Hirnströme nachvollziehbar, denn auch diese reagieren bei leisen Menschen anders. Nancy Snidman und Jerome Kagan veröffentlichten in ihrem Buch “The Long Shadow of Temperament“ Ergebnisse einer Langzeitstudie, die zeigte, dass die Gehirne introvertierter und extrovertierter Menschen bereits im Säuglingsalter unterschiedlich reagieren. Sie fanden heraus, dass Babys, die besonders stark auf äußere Reize reagierten als Erwachsene deutlich häufiger zur Introversion neigten. Babys mit einer geringen Reizreaktion hingegen schlugen ins extrovertierte Spektrum aus. Inzwischen haben Forscher auch nachgewiesen, dass in den Gehirnen sehr introvertierter Menschen eine höhere elektrische Aktivität vorliegt. Der Unterschied ist elementar, denn er wirkt sich auf unsere Verhaltensweisen aus. Intro-Gehirne besitzen quasi von Natur aus eine höhere Grundstimulation und reagieren auf zusätzliche Reize stärker. Warum sich leise Menschen auf Massenveranstaltungen also unwohler fühlen und nach Kontakt mit großen Gruppen eine Auszeit brauchen, wird dadurch klar. Sie brauchen weniger Reize von außen und schützen sich selbst, indem sie sich abschotten, wenn zu viele Reize auf sie einprasseln. In unserer sehr extrovertierten Welt, die immer schneller und zahlreicher Reize zu uns sendet, wird das zunehmend schwierig. Zumindest dann, wenn wir vergessen, dass auch diese Ausprägung nur eine Variante von richtig ist.

 

Tipps gegen die Reizüberflutung

Was aber hilft leisen Menschen nun, um in dieser lauten Welt nicht permanent unter Reizüberflutung zu leiden? Es gibt verschiedene Möglichkeiten:

 

Verständnis:
Die wichtigste Hilfe für introvertierte Menschen ist wohl das Verständnis von außen. Dass es einfach auch ok ist, wenn man nach einem langen Meeting nicht noch mit zur anschließenden Party möchte oder dass man auf Dienstreisen nicht die ganze Zeit mit den Kollegen verbringt, sondern auch kleine Ruhephasen benötigt. Wenn diese Reaktionen nicht mehr als sonderbar, ablehnend oder unfreundlich angesehen werden könnten, wäre es für leise Menschen schon so viel einfacher. Und dieses Gefühl des Andersseins sicher deutlich seltener.

 

introvertiert-gedicht-heute-nicht

 

Ruheorte:
Wenn wir uns mal umsehen, ist es erschreckend, wie viele Reize permanent auf uns einwirken. Die Musik beim Einkaufen, das blinkende Smartphone auf dem Schreibtisch, die Fülle an Informationsangeboten und so weiter und so fort. Das alles sind tolle Dinge, zusammengenommen aber ein permanenter Strom von äußeren Reizen. Was hier helfen kann, sind feste Ruheorte. Also wirklich ruhige Plätze, zum Beispiel ein Lieblingsplatz am See, eine schöne Lichtung am Wald oder auch ein Sessel in einer ruhigen Ecke des Hauses, an dem weder Musik noch Handy vorhanden sind. Täglich 15 bis 30 Minuten an solchen Ruheorten zu verbringen, hilft leisen Menschen dabei, ihren Akku wieder aufzuladen. Das kann durch einfaches „in der Ruhe sein“ geschehen, aber auch durch Meditation oder Achtsamkeitsübungen.

 

Abgrenzung:
Wo viele Möglichkeiten sind, lauern viele Verpflichtungen und dementsprechend viele Reize. So könntest du dich im Verein engagieren, gleichzeitig in der Schule der Kinder mehr mitwirken, einen Stammtisch ins Leben rufen, mehr ehrenamtlich tun, den Betriebsausflug mitorganisieren und auch mal wieder alte Bekannte treffen. Alles für sich betrachtet gute Dinge, auf die du auch nicht verzichten solltest. Aber es ist sinnvoll, die eigene Grenze zu kennen und auch zu wahren. Gerade sehr engagierte Menschen geraten schnell von einem Ehrenamt ins nächste, beruflich wie privat. Trau dich, dich hier abzugrenzen und eine rote Linie zu ziehen. Wie viel kannst du leisten, sodass es dir selbst dabei noch gut geht? Und was ist zu viel? Das bedeutet nicht, dass du keinerlei Ämter übernehmen darfst –im Gegenteil. Aber besser du steckst deine Energie sinnvoll in wenige Aufgaben, als unter zu vielen Bürden dich selbst komplett zu vergessen. Nein zu sagen ist oft schwierig, aber lebenswichtig.

 

Nachrichtenpausen:
Dieser Punkt ist einer der schwierigsten für mich. Denn ich arbeite online und überprüfe als Selbstständige auch nachmittags und abends, ob Mails eingegangen sind oder es wichtige Neuigkeiten gibt. Am Ende bin ich dadurch zwar gut informiert, aber auch erschöpft. Denn wenn die Nachrichten permanent reinkommen, ein Newsticker die noch taufrische Mail ablöst und dann noch parallel eine WhatsApp-Gruppe zum nächsten Kindergeburtstag eröffnet, strengt mich das an. Wenn es dir auch so geht, versuche dir feste Nachrichtenpausen einzurichten. Mal ehrlich, wenn du abends um 21:00 Uhr nicht mehr auf eine Mail reagierst oder die Geschenkwünsche per WhatsApp abfragst, tut das keinem weh. Dir dafür aber sehr gut. Ist leicht gesagt und ich selbst bin da auch nicht konsequent, aber ab und an tut eine feste Nachrichtenpause richtig gut.

 

Und dein Tipp?

Wie geht es dir? Wie gehst du mit den vielen Reizen um uns herum um? Poste deine Tipps doch gerne in die Kommentare! 

Warum Introvertierte anders und trotzdem richtig ticken

6 Kommentare zu „Warum Introvertierte anders und trotzdem richtig ticken

    • 16. März 2018 um 9:49 Uhr
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      Lieben Dank! 🙂

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  • 17. Mai 2018 um 19:04 Uhr
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    Ich kann von mir sagen, das stimmt ,was du auf deinem Block schreibst. Auch ich gehöre zu den Intovertrierten, manchmal habe ich das Gefühl, ich muss mich dafür entschuldigen.

    Antworten
    • 17. Mai 2018 um 19:19 Uhr
      Permalink

      Hallo,
      wie schön, dass du da bist! 🙂 Gerade wenn du das Gefühl hast dich für deine Art entschuldigen zu müssen, denn das ist absolut nicht nötig. Was wir brauchen, ist etwas mehr Aufklärung über Introversion, damit sie nicht immer als merkwürdig und irgendwie anders wahrgenommen wird, sondern als das, was sie ist: völlig normal.
      Ganz liebe Grüße
      Sonja

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  • 30. August 2020 um 13:39 Uhr
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    Ich versuche die Reize so gut es geht auszublenden aber manchmal überfordert es mich einfach auch dies zu machen. Aber langsam gewöhne ich mich an gewisse Reize so das ich sie für mich gut verarbeiten kann. 🙂

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    • 14. September 2020 um 7:44 Uhr
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      Hallo André,

      ja, manchmal ist es einfach zu viel. Toll, dass du einen Weg gefunden hast, besser damit umzugehen.:-)

      Alles Liebe für dich!

      Viele Grüße
      Sonja

      Antworten

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